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Saturday, August 29, 2020

Annie Ernaux' Erinnerungsbuch "Die Scham": Freitags immer Fisch, an einem Sonntag fast ein Totschlag - DER SPIEGEL

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Anlauf nimmt die Autorin erst nach dem Sprung. Zunächst bringt sie es hinter sich. "An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen."

So lautet der erste Satz des Romans. Dann beginnt die Erkundung seiner Bedeutung. Wie kam es dazu, was hat diese Beinahe-Tat offenbart, und wie hat sie sich ausgewirkt? Nicht nur auf die unmittelbar Beteiligten, sondern auch auf ihr einziges Kind, das hinzugerufen wurde, um einen Totschlag mit dem Beil zu verhindern?

Diese Erkundung ist Gegenstand des Romans; man kann das so bürokratisch formulieren, denn eine gewisse Bürokratie legt die Erzählerin selbst an den Tag. Ihr eigentümlicher Stil, bei aller Prägnanz der Worte und der Wohlgeformtheit ihrer meist kurzen Sätze, hält sich von jeglicher Erlebnisprosa fern. Eher lässt er an eine Stimme denken, die vom Schock verlangsamt ist und ihn in Protokollsätzen verarbeitet: "Es war der 15. Juni 1952. Das erste präzise und eindeutige Datum meiner Kindheit. Davor gibt es nur aufeinanderfolgende Tage und das Datum an der Schultafel oder oben in meinem Heft."

Wer Annie Ernaux' bisherige Bücher gelesen hat ("Die Jahre", "Eine Frau"), kennt das Milieu und die Umstände des Ereignisses. Die Autorin, zutreffend eine "Ethnologin ihrer selbst" genannt, beschwört und umkreist sie immer wieder: Sie hat studiert und als Akademikerin ihre Klasse verlassen, doch ihr Thema ist die soziale Herkunft, die sie nicht verlässt. Der kleine Laden mit Kneipe, den ihre Eltern in der nordfranzösischen Provinzstadt Yvetot betrieben, die Dürftigkeit der Verhältnisse und die katholische Moral, die sie von klein auf inhaliert wie den freitäglichen Geruch nach Fisch, all das wird aufgerufen.

Scham als Zustand

In anderen Büchern unterstützt oder überprüft die Autorin ihr Gedächtnis mit Material; sie nimmt Fotos, Pläne und Gegenstände zur Hand, um ihre Erinnerung zu stimulieren. Hier geht sie ins Archiv ihrer Heimatstadt, studiert die Zeitung "Paris - Normandie" dieses sonntäglichen 15. Juni, mit ihren Artikeln über das 24-Stunden-Rennen von Le Mans, die Weizenernte und ein lokales Verbrechen, zu dem es tatsächlich kam.

Doch nichts davon wird  "real". Sie muss sich an ihre inneren Bilder halten und auf die Vermutung verlassen, dass es einen verborgenen roten Faden gibt, an dem sie aufgereiht sind. Diese Vermutung bestätigt sich: Am Ende ist es ein Gefühl, die Scham, das die Verbindung stiftet.

Allerdings ist diese Scham eher ein Zustand: "Als ich über diesen Text nachzudenken begann, schlug eine Mörsergranate auf dem Markt von Sarajevo ein, tötet mehrere Dutzend Menschen und verletzte Hunderte. In der Zeitung schrieb jemand, "ein Gefühl der Scham" hätte uns "gepackt". Für solche Leute ist die Scham etwas, was man an einem Tag empfinden kann und am nächsten nicht, was man auf eine Situation anwendet (Bosnien), auf eine andere nicht (Ruanda)." Für Leute wie sie, das zeigt dieser Text, ohne es auszusprechen, hat die Scham eine ontologische Qualität.

Zwischen dem ersten Erscheinen dieses Buches in Frankreich und seiner deutschen Übersetzung liegen 23 Jahre. Aber was macht das schon? Denn zwischen dem Ereignis, das Annie Ernaux hier seziert, und seiner Fassung in Literatur lagen wiederum 44 Jahre. Ernaux braucht Zeit, um sich zu erinnern, und diese Dauer scheint selbsttätig zu extrahieren, was wesentlich ist. Zu Lob und Preis ihrer Literatur gehört ihre deutsche Übersetzerin Sonja Finck. Die beiden servieren Gräten, aus denen beim Lesen der armselig-kostbare Fisch entsteht.

Icon: Der Spiegel



August 30, 2020 at 03:26AM
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Fisch

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